Tomaten im Mund statt auf den Augen: Die Zeit ist reif für mehr Nutzpflanzenvielfalt!

Die Werkhof-Gärtnerei Dortmund baut nach demeter-Richtlinien etwa 70 verschiedene Tomatensorten an und eine große Anzahl davon konnte bei einer Sortenverkostung am Donnerstag, den 30.8.18 kennengelernt werden. Zur Veranstaltung lud die Werkhof-Gärtnerei gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft NRW (AbL NRW) ein, die aktuell das Projekt "Saatgut: Vielfalt in Bauern- und Gärtnerhand" durchführt, das von der Stiftung Umwelt und Entwicklung NRW gefördert wird.

Solch eine Vielfalt an Tomatensorten haben die meisten der etwa 70 Besucher sicherlich zum ersten Mal gesehen und gekostet, denn in den Supermärkten findet man meist die gleichen wenigen Sorten. Deshalb wurde in der anschließenden Podiumsdiskussion diskutiert, wie eine größere Nutzpflanzenvielfalt in der Landwirtschaft gefördert werden kann. Die Werkhof-Gärtnerei gehört zur Werkhof-Projekt gGmbH, die soziale und berufliche Integration besonders benachteiligter Menschen fördert, wie der Geschäftsführer, Herr Dörmann, vorstellte. Die Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur und Verbraucherschutz NRW, Frau Heinen-Esser, besuchte die Veranstaltung und interessierte sich sehr für die Tomatenvielfalt und die Soziale Arbeit des Werkhofes.

Ein großes Problem ist, dass seit 1900 laut FAO 75 % der Nutzpflanzenvielfalt weltweit verloren gegangen ist. Der Hauptgrund ist, dass in der heutigen industriellen Landwirtschaft und auf dem Saatgutmarkt auf wenige Hochleistungspflanzen statt auf Vielfalt gesetzt wird. Die Vorsitzenden der AbL NRW, Ophelia Nick und Bernd Schmitz, zeigten die Bedeutung: "Eine Vielfalt an Nutzpflanzen ist eine wichtige Ressource, die für Bauern und Gärtner und die Gesellschaft für jetzt und die Zukunft erhalten werden muss. Pflanzen mit den unterschiedlichsten Eigenschaften, Inhaltsstoffen und Anpassungen sind wichtig, um eine Auswahlmöglichkeit zu haben." Eine Maßnahme ist, die Pflanzensorten in Genbanken zu sichern. "Zusätzlich sind jedoch auch der Anbau und die Nutzung wichtig, damit sich die Pflanzen an die heutigen Bedingungen anpassen und die Gesellschaft die Pflanzen nicht vergisst. Erhaltung durch Aufessen.", so Bernd Schmitz.

Die Leiterin der Werkhof-Gärtnerei, Rita Breker-Kremer, ergänzt: "Für mich ist auch wichtig, dass die Pflanzensorten samenfest, also nachbaufähig sind, also keine Hybridsorten, damit ich eigenes Saatgut gewinnen kann, das die Sorteneigenschaften behält und ich nicht immer Saatgut neu kaufen muss. Mir selbst schmecken unsere samenfesten, traditionellen Tomatensorten viel besser als Hybridsorten und auch auf dem Wochenmarkt oder Hofladen kommen viele Kunden extra wegen der Tomaten zu uns."

Auch "Die Abokiste" wird mit Gemüse der Werkhof-Gärtnerei beliefert und dessen Geschäftsführer, Marc Schmitt-Weigand, sagte in der Podiumsdiskussion: "Ich würde meinen Kunden gerne mehr der traditionellen Tomatensorten anbieten und sehe den Handel auch in der Verantwortung, die Nutzpflanzenvielfalt zu fördern. Die traditionellen Sorten sind jedoch wegen ihrer dünnen Haut schlecht zu transportieren und zu lagern. Für mich wäre es wertvoll, wenn diese vielfältigen Tomatensorten weiter gezüchtet würden für eine bessere Transportfähigkeit."

Jörg Schlösser vom ökologischen Saatgutanbieter "Bingenheimer Saatgut" berichtete, dass die Züchter des Vereins Kultursaat, deren Sorten sie verkaufen, sich auch dafür einsetzen, alte samenfeste Sorten zu sichern, pflegen und für die Züchtung zu verwenden: "Bingenheimer Saatgut setzt sich sehr für eine Vielfalt an samenfesten, ökologischen Sorten ein. Die Ausrichtung der Züchtung weltweit sollte überdacht werden: Statt den Blumenkohl noch weißer zu züchten, sollte sich auch für mehr Vielfalt eingesetzt werden." 

Auch für den Bio-Bauern Gyso von Bonin ist Saatgut zentral: "Es ist wichtig, dass Saatgut den Bauern und Gärtnern nicht aus der Hand genommen wird, beispielsweise von den drei größten Saatgutkonzernen Bayer-Monsanto, Dow-Dupont und Syngenta, die etwa 60 % des weltweiten Saatgutmarktes halten und dazu auch Pestizide vertreiben. Wir müssen Wissen und Bewusstsein schaffen, was in der Saatguttüte drin ist. Zu bedenken ist, dass Bauern und Gärtner nur Vielfalt anbauen können, wenn dies nachgefragt wird und die Mehrkosten gezahlt werden."

Die Leiterin des Projektes "Saatgut: Vielfalt in Bauern- und Gärtnerhand" der AbL NRW, Svenja Holst, forderte: "Die Nutzpflanzenvielfalt muss stärker von der Politik gefördert werden. Die AbL schlägt vor, einen staatlichen Saatgutfonds aufzubauen, der transparent und demokratisch Züchtungsprojekte fördert, die vielfältiges, nachbaufähiges, gentechnikfreies und widerstandsfähiges Saatgut züchten, das Ressourcen schont und anpassungsfähig ist. Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) und die Bundesländer sollten Bauern und Gärtner unterstützen, die eine Nutzpflanzenvielfalt auf ihren Betrieben anbauen oder seltene Sorten erhalten.